Literaturpreis 2011

2011


     
Hanna Haupt



Literaturpreisträgerin 2011:

Hanna Haupt

Bruno



Das war’s. Meinen vierundfünfzigsten Geburtstag werde ich nicht mehr erleben, das kann ich nicht mehr schaffen. Ja, so ist das mit mir. So sieht es aus.


Ich hab’ ja nie viel gesagt, aber weil ich sonst nicht mehr viel entscheiden kann, will ich wenigstens meine Geschichte erzählen.

Es wird nicht lange dauern, die dreiundfünfzig Jahre und die elf Monate, die ich gelebt habe, zu erzählen, da gibt es nichts langatmiges, denn ich bin gleich nach meiner Ausbildung ins Büro, bin Bilanzbuchhalter geworden, ja, das hat sich so ergeben. Ich saß also zweiunddreißig Jahre an meinem Schreibtisch in der Potsdamer Straße. Von montags bis freitags. Wenn mich einer gefragt hat, wie es mir geht, habe ich gleichgültig die Achseln gezuckt, hab' gesagt, och, ganz gut so weit. Stimmte nicht, so dachte ich aber - damals.


Na ja, ich bin morgens mit meinem Rover hin, hab’ den Tag dort verbracht, auf dem Rückweg eingekauft, was man so braucht, ... damals hatte ich ja noch Geld ... und der Rest ergab sich dann so.

Vor zehn Jahren, da hatte ich mal ne schöne, ruhige Wohnung in der Salvador-Allende-Straße, neunter Stock, mit Aufzug, im Grünen natürlich. Bei klarem Wetter konnte ich rüber sehen bis zum Müggelsee. Und Sonntag abends: Beine hoch und Tatort, mit Bier und Ueltjes, ab und zu die Katze streicheln und so weiter. Man guckt halt zu, wie die andern Stress haben.


Aber das ist alles vorbei, den Rover hab' ich verkauft, die Katze ist auch nicht mehr, aus der Wohnung bin ich ausgezogen und jetzt hab' ich andere Sorgen. Jetzt sitze ich nämlich in Schöneberg, im zweiten Stock, in der Bülowstraße und an meinem Fenster fährt die U-Bahn vorbei.


Fällt mir nicht leicht, meine Geschichte zu erzählen, was kann man zu so einem Leben auch sagen?

Für mich steht jedenfalls fest, dass ich für den Rest meines Lebens keinem mehr einen Kaffee ausgeben, nichts mehr von mir erzählen werde. Das ist nun mal so, hat sich so eingespielt.

Wenn ich schon mal mit jemandem spreche, dann fragt der mich doch gleich, was ich so mache, wo ich wohne, wie viele Zimmer, mit oder ohne Balkon und dann kommen die Blicke. Aha, Stuck und Parkett, ach so, aber keine Arbeit, ach so, Hartz IV.


Es ist, wie es ist. Ja, und ich hab' sowieso Schwierigkeiten, wenn ich von mir erzählen soll, vor allem, wenn ich an Keith denke.

Keith war die Hauptperson in meinem Leben. Ich war achtundzwanzig, als ich zu ihm gekommen bin. Der Keith, der hatte so eine Art, die einen hinderte, die Hosen runterzulassen. Ich meine, man konnte nicht sagen, was man denkt, der Keith konnte sehr unangenehm werden. Er war schließlich mein Chef. Früher hätte ich nicht drüber reden können, wollte nichts davon hören. Aber seitdem mir klar wurde, dass mein Leben bei Keith sozusagen zu den ganz gewöhnlichen Katastrophen gehört, die sich in Büros abspielen, fällt es mir leichter, die Ursache meines Unglücks zu sehen. Es war so, dass Keith mich hinderte zu denken. Und so brachte er mich dazu, alles zu tun, was er verlangte, und hinzunehmen, was er mit mir machte. Ja, so ist das gewesen. Die Firma und Keith, Keith und die Firma, alles andere war eigentlich gar nicht da. Ich dachte, es würde nicht ohne ihn gehen, aber inzwischen komme ich schon zehn Jahre ohne ihn zurecht und begreife nicht mehr, dass ich das hingenommen habe.


Vor zwei Jahren habe ich angefangen, das alles aufzuschreiben, und es hat damals Wochen gedauert, die paar Sätze hinzuschreiben. Es war mir unangenehm zuzugeben, dass ich bei Keith verlernt hatte zu denken. Aber eigentlich war es ja noch schlimmer. Im Laufe der Jahre, na ja, das hat sich so ergeben, da wurde aus der kleinsten Andeutung seiner Gesten für mich eine Aufforderung zu handeln. Eigentlich hatte ich zwei völlig verschiedene Leben, eins mit und eins ohne Keith. Nach Keith habe ich wieder angefangen alleine zu denken und deswegen musste ich mir eingestehen, dass ich Keith gegenüber nur eine Geste gebrauchte, und die war unbedeutend, ich nickte: Keith, dein Wille geschehe, dein Reich komme zu mir!

Dadurch habe ich es ihm natürlich leicht gemacht. Aber ich hatte mir das stumme Nicken angewöhnt, weil es gefährlich war, etwas zu sagen. Es war so: Alles, was gesprochen wurde, war gewissermaßen an Keith gerichtet oder wurde jedenfalls von Keith sofort überprüft, ob es sich gegen ihn richtete. Und beim geringsten Verdacht richtete Keith sich gegen den, der gesprochen hatte. Wenn man nickte, passierte nichts.

Ich weiß nicht mehr warum, aber in meinem Kopf war doch schon ein geräumiges Vakuum, als ich ankam bei Keith, und genau in dieses Vakuum warf Keith seine Demütigungen, seine Befehle und dann war ich nur noch Keith, dann war alles Keith.

Von Keith hing ja sozusagen alles ab, das Auto, die Wohnung, die Freundin, ja von Keith hing einfach alles ab, was ich brauchte.

Und wenn dir das klar wird, hörst du am besten auf zu denken, ist jedenfalls am einfachsten so, wenn du durchkommen willst.

Und außerdem kreiste ich natürlich um Keith, sozusagen in Wartestellung, ich lauerte darauf, irgendwann einmal wie Keith zu befehlen, auch ein Keith zu werden.

Aber Keiths Gelüste haben sich irgendwann geändert und so wurde nichts aus meinem Plan.

Ich blieb der Blumfeld. Ich habe Keith nie widersprochen, aber es war ihm plötzlich zuviel, dass ich mir meine Arbeit bezahlen ließ. Der konnte den Hals gar nicht voll kriegen.

Ja, vor zwanzig Jahren, daran erinnere ich mich noch genau, da wurde das doch üblich, dass man auf seinem Verstand erst gar nicht mehr zu bestehen brauchte. Nicht mal mehr auf seiner Ausbildung konnte man doch bestehen. War plötzlich alles nichts mehr wert.

Aber man hat auch nicht darauf bestanden. Man war ja völlig kopflos, man hatte ja nur noch Angst. Da waren ja auch noch die aufeinander gerichteten amerikanischen und russischen Raketen und man saß mittendrin und dann kamen auch noch Wind und Regen aus Tschernobyl. Ja, so war das gewesen. Und ein paar Jahre später hat man ganz offiziell festgestellt, ab jetzt ist wieder jeder seines Glückes Schmied, alles ist erlaubt, jedes Mittel ist recht. Na, und der Keith hat mich das spüren lassen.

Ich machte meine Arbeit, aber es war ihm zu viel, dass ich da war. Ich wusste damals genau, wenn ich nicht aufpasse, werde ich entlassen.

Trotzdem dachte ich, es ist doch alles nur ein Spiel und natürlich hab' ich mich getröstet damals. Blumfeld, sagte ich zu mir, du hast dich doch bis jetzt tapfer geschlagen, mach dich doch nicht verrückt, du verstehst es doch, dich zu tarnen, du hast doch gelernt, den Mund zu halten, du bist doch mit allen Wassern gewaschen, dir wird schon nichts passieren, und immerhin, du bist Buchhalter, Bilanzbuchhalter.

Ich hab' geglaubt, dass ich das bleiben würde, wenn nicht bei Keith, dann eben woanders, und ich habe eigentlich immer so weiter gemacht, bis zu diesem Montag Nachmittag. Es war kurz vor Dienstschluss und ich hatte alles so gemacht wie jeden Montag. Man kann sagen, in den sechsundzwanzig Jahren, die ich unter Keith an meinem Schreibtisch saß, habe ich mich keinem in den Weg gestellt, sondern immer das Gleiche gemacht. Und dafür gab’s Geld.


Also, einfach war das nicht. Zwölf Jahre habe ich geduldig auf ein angemessenes Gehalt gewartet. Keith bestand darauf, dass ich mich bewähren müsse. Bewähren, das war, sich Keith zur Verfügung stellen, mit Haut und Haaren. Da war nichts mit Müggelsee. Da gab’s nicht mal den Tatort. Aber jeder Marathonläufer denkt ja, dass es sich lohnt weiterzulaufen.


Anfangs legte der Keith nur seine Sätze in meinen Mund, aber während der zwölf Jahre, in denen ich mich bewährte, da saß der Keith tatsächlich in meinem Gehirn und ich fand es nicht mal besonders unangenehm. Es fällt einem ja erstaunlich wenig auf, wenn man programmiert ist, da nützt es einem gar nichts mehr, in einer Demokratie zu leben und Gesetze zu haben und eine Verfassung. Für deine Würde bist du nämlich erst mal selber zuständig.

Das wollte ich jetzt eigentlich noch gar nicht sagen, ich habe da etwas vorweggenommen. Der letzte Satz ist nämlich von Bruno, der ist mir jetzt so dazwischen gerutscht, aber darauf will ich ja erst später kommen.

Also, an diesem Montagnachmittag, an dem ich vierundvierzig wurde, teilte Keith mir mit, dass ich entlassen sei.

Seitdem habe ich immer befürchtet, dass es einmal so wie heute kommen würde. Ich wusste nur nicht genau, was passieren würde, und ich wollte es mir auch nicht vorstellen, weil ich schon mit dem Arbeitslosengeld nicht mehr auskam, aber dass es soweit gehen würde, dass ich noch weniger bekomme, habe ich nicht für möglich gehalten.

Man kann es sich erst denken, wenn man so lebt wie ich. Zehn Jahre habe ich Eingaben und Antworten in Ordnern gesammelt, beschämende Antworten, die übrigens unverkennbar in der Sprache Keiths verfasst sind, und um diese menschenverachtende Sprache nicht mehr lesen zu müssen, wünscht man sich schon fast ohne Antwort zu bleiben. Es ist ja inzwischen ganz egal, was geantwortet wird, ja ich sehe das ganz klar, die Gesetze sind Keith und die Regierung, das ist auch Keith.


Und jetzt kommt offensichtlich nicht einmal mehr ein Beschluss, sondern gleich die Ausführung. Das weiß ich eben jetzt, wo es zu spät ist, etwas anderes zu unternehmen, als Eingaben an die Behörden zu schreiben. Ich habe das vor kurzem alles vernichtet, die ganzen Ordner in die Tonne gehauen, weil ich wusste, das Papier rettet mich nicht.

Und genau so ist es gekommen, denn, ohne dass mir ein entsprechendes Gesetz bekannt geworden ist, hat man heute in den frühen Morgenstunden ein mir unbekanntes Gerät in meine Wohnung getrieben, das, soweit ich das beurteilen kann, die Luft aus meiner Wohnung abzieht.

Ich wundere mich nicht über die Anordnung, ich denke, es geht wieder um Kosten, dieses Mal um die, die meine Entlassung verursacht haben. Mich überrascht allerdings die unmittelbar nach der Installierung einsetzenden Wirkung des Gerätes, und die Tatsache, dass die Luftkralle offensichtlich funktioniert, hat bei mir den Verdacht aufkommen lassen, dass das Gerät nicht zum ersten Mal eingesetzt wird. Ich bin sicher, das ist ein flächendeckender Einsatz, nachts, wenn der Kran kommt, ist einer fällig.

Natürlich kam die Maßnahme ohne jede Vorankündigung zur Ausführung und zu einem vollkommen unauffälligen Zeitpunkt, weil es jetzt im Sommer in der Wohnung sowieso heiß und stickig ist. Die Luft über der Stadt hat schon tage- und nächtelang stillgestanden und dann haben sie zugeschlagen. Seitdem bin ich in einer unhaltbaren Lage, weil offenbar schon in der Nacht und von mir unbemerkt meine Wohnungstür und die Fenster mit einem Dichtungsmittel, einem ekelhaft riechenden Schaum, verriegelt wurden.

Es wäre mir natürlich lieber gewesen, ich hätte das Geräusch, mit dem die Luftkralle aufsetzte, nicht gehört. Ich hätte weiter auf dem Rücken in meinem Bett gelegen und wäre nicht ans Fenster geschlichen. Dann hätte ich die Sonde auf dem Einsatzwagen gar nicht bemerkt und wäre wahrscheinlich still eingeschlafen. Aber jetzt, wo ich alles gesehen und gehört habe, begreife ich natürlich, dass ich nach und nach, ganz langsam ersticken werde.


Ja, der Bruno, wenn der Bruno wüsste, was hier passiert. Der Bruno, der war mein Vormieter hier gewesen. Wir haben uns gleich verstanden. Mit dem Bruno hab' ich gleich reden können. Obwohl ich ihn gar nicht kannte, hab' ihm damals gleich meine miese Lage erklärt.

"Ihr müsst Euch doch wehren, warum macht ihr denn nichts?" hat der Bruno mich gefragt.

"Aber wie denn", hab' ich ihn gefragt, "kannst Du mir das mal erzählen?"

"Das Stück, dass wir gerade proben, da steht die Frage über dem Stück – bis zum Schluss. Ja, und am Ende bleibt sie dann unbeantwortet."

"Ich kennen keinen, dem es so geht wie mir, ich hab’ Angst, und ich schäme mich andauernd", hab ich gesagt, "und außerdem ist draußen Krieg. Wenn ich aus der Haustür komme, bin ich doch gleich an der Front, und wenn ich mal in den Bus steigen muss, bin ich zwangsweise embedded und auf dem Rückweg kann ich den Frontbericht schreiben."

"Nee, nee", hat der Bruno gesagt, "schämen müssen sich doch die anderen, die euch so hängen lassen."

"Wie stellst Du Dir das vor, soll ich vielleicht einen Hartz IV-Kongress einberufen? Da kommt doch keiner, da kannst Du warten, bis Du grün wirst. Du und Deine Kollegen vom Theater, Ihr könnt das vielleicht, aber wir nicht."

„Ich vermute mal, hat der Bruno gesagt, wir müssten lange üben, bis wir so was zusammen machen könnten. Wir sind doch ungefähr gleich alt, denke ich mal, und ich übe immer noch. Eigentlich war mein Leben ein einziges Scheitern. Fortwährend bin ich gescheitert. Meine Frau ist weggegangen und die Freundin, mit der ich sie betrogen habe, ist auch weg. Weißt Du, bei meiner Frau, das war Liebe. Und trotzdem. War wohl immer noch zu wenig für mich."



Damals hat der Bruno mir versprochen, im Sommer noch mal vorbeizukommen.

Bis jetzt hat er aber wohl noch keine Zeit gehabt, mich zu besuchen. Der Bruno, der ist nämlich Schauspieler. Seinen Küchentisch, den hat er mir überlassen, den konnte er nicht mehr brauchen in der neuen Wohnung. Die Küche in seiner neuen Wohnung war zu klein.

Bruno, kannst Du mich hören? Es geht einfach nicht mehr, ich hätte da nie mitspielen dürfen. Ich habe zwar nicht freiwillig aufgegeben, aber immerhin bin ich in den zehn Jahren zu sonderbar geworden, um mich zu verbiegen. Die Spielregeln werden zwar noch jeden Tag im Fernsehen rauf und runter gebetet, aber ich bin schon zu lange allein in meinem Gehirn, um nicht zu merken, wie dumm es ist, immer nur zu spielen.

Nur, jetzt weiß ich nicht mehr, wo ich hin will, wo ich sicher wäre. Ich wäre gerne irgendwo, wo man mich nicht finden kann, wo diese Spielregeln außer Kraft gesetzt sind und wo es verboten ist, sie einzusetzen.

Natürlich kann einem überall etwas zustoßen, aber man wird doch wohl nirgends so zerschlagen wie hier.

Ein Ort ohne Keiths, da könnte man wieder anfangen zu leben. Keine Ahnung wie es da aussehen würde, es war ja noch keiner da. Zugegeben, den Ort hat zweifellos der Erdboden verschluckt, andererseits, wenn man wüsste, wo er wäre, hätten sie ihn wohl in kürzester Zeit dem Erdboden gleichgemacht. Die einzige Möglichkeit wäre also, unbemerkt dort hinzukommen, aber wie soll das gehen, wenn nichts davon zu sehen ist? Wer hat schon den Mut, sich vom Erdboden verschlucken zu lassen, nur um dort hinzukommen.


Ich denke schon lange darüber nach, aber so kann ich sonst nur mit Bruno reden, weil der mich versteht, denn seitdem ich das Spiel nicht mehr spiele, bin ich sonderbar.

Nun ja, ich hätte es mir auch anders gewünscht, aber es wäre sonst immer so weitergegangen. Ich hatte meine Hoffnungen, die ich an das Spiel gehängt habe, doch gar nicht mehr überprüft. Ich hätte doch von selbst nicht mehr aufgehört, ich war doch sicher, wenn ich durchhalte, werde ich auch gewinnen

Als Buchhalter wäre ich dumm geblieben, aber als Arbeitsloser habe ich was gelernt. Kann man kaum glauben, ist aber so.


Wir waren drei Kollegen im Büro und von Anfang an Keith unterstellt, also saßen wir da, wie Hündchen. Es war schrecklich und wurde immer schlimmer und trotzdem, in den letzten Jahren hatte Keith es geschafft, dass wir froh waren, überhaupt Arbeit zu haben.


Und jetzt. Im Oktober hab’ ich mich noch als Pförtner beim Landratsamt beworben. Das ist doch was. Nur haben sich außer mir noch fünfhundertsiebenundachtzig Menschen darum beworben, darunter einhundertneun Behinderte. Aber ich war schon entwöhnt von Keith und als die Absage kam erleichtert. Ich stand vor dem Waschbecken und schaute lange in den Spiegel, du bist befreit von deiner Sucht, grinste ich in den Spiegel hinein, und du würdest auch keinen zweiten Keith mehr ertragen.

Ich habe das natürlich verschwiegen, dass ich erleichtert war. Ja, man muss das Spiel kennen, besonders dann muss man die Spielregeln kennen, wenn man gar nicht mehr mitspielen will.

Ich brauchte nach den dreiundzwanzig Jahren bei Keith übrigens keine Entziehungskur, ich war schon wenige Monate nach meiner Entlassung von meinem erbärmlichen Leben entwöhnt. Da kann man sich plötzlich viel mehr vorstellen. Da lernt man wieder alleine zu denken, und wenn man will, wächst einem wieder ein Gehirn. Manchmal lag ich fast ein bisschen glücklich in meinem Bett und dachte, dein Gehirn gehört wieder dir.

Aber noch mehr als meine Entlassung verändert mich die Ausweglosigkeit meiner augenblicklichen Lage:

Es ist jetzt schon kurz vor halb sieben, aber die Luft reicht noch aus um weiterzuschreiben. Verflucht, Bruno, warum bist Du in all den Jahren nicht mal vorbeigekommen?

Meine Mörder sind vor zwei Stunden abgefahren und ausgerechnet jetzt spüre ich eine so starke Schwingung in mir, dass ich deswegen ein wenig schwanke, obwohl ich mit dem Rücken an die Wand gelehnt auf dem Fußboden sitze. Ich zittere, friere und schwitze. Mein Kopf hängt oben, fast unter der Decke und will mein Elend kontrollieren, der will mich immer noch retten. Komisch, ich kann es ihm nicht mehr abgewöhnen. Früher hab’ ich ja eigentlich nie richtig gefühlt, dass ich lebe, und ausgerechnet jetzt kommt das über mich. Früher hätte mein Kopf in dem Zustand, in dem ich jetzt bin, abgewinkt und gesagt, gut, lassen wir das, du wirst doch wohl jetzt nicht aus der Rolle fallen. Aber angesichts meiner Lage nützen seine Beschwichtigungen nichts mehr. Das kommt jetzt nicht mehr infrage, ich weiß schließlich, dass ich bald ersticken werde. Überhaupt sind zu diesem Zeitpunkt die verfluchten Spielregeln, an die ich mich lebenslang gehalten habe, nur noch lächerlich. Wenn ich ehrlich bin, habe ich sie noch nie gemocht, ich habe nur nichts gesagt. Aber, wer so umgebracht wird wie ich, von dem kann man wohl kaum erwarten, dass er noch Rücksicht nimmt. Die Schwingung in mir ist immer stärker geworden und alles um mich herum schwingt mit. Nachdem es nun einmal soweit in mir gekommen ist, funktioniere ich einfach überhaupt nicht mehr. Ich fürchte, ich werde jetzt hemmungslos genau das sagen, was verboten ist.

Um gleich mit dem Schlimmsten anzufangen, mir ist es eigentlich schon lange nicht mehr unangenehm, dass ich nicht mehr dazu gehöre.

Wenn man schon seit zehn Jahren nicht mehr mitspielen darf, kann man sich nämlich manches angenehmer machen. Solange der Abfalleimer noch nicht riecht und noch Tabak und was zu essen da ist, gehe ich nicht mehr aus dem Haus. Ich schließe auch nur selten den Briefkasten auf, weil dabei das mulmige Gefühl wieder hochkommt, mit dem ich morgens zu Keith rein ging.


Mittlerweile bin ich erleichtert, wenn mir abgesagt wird, und das ist doch ein sicheres Zeichen, dass ich mit mir vorangekommen bin. Ich mache nicht mehr mit, das Spiel interessiert mich nicht mehr und jetzt, wo ich bald in die Kiste komme, muss ich auch die Spielregeln nicht mehr einhalten, ich muss mich nicht mehr hüten, etwas Unpassendes zu sagen.


Mensch Bruno, ich war ja gewarnt. Der nächtlichen Aktion sind schon ein paar Briefe vorausgegangen, aber ich habe einfach nicht glauben können, dass die so was machen. Obwohl mir das Verhalten der Strom- und Wasserwerke eigentlich schon zu denken hätte geben müssen. Wahrscheinlich wäre heute Nacht die letzte Gelegenheit gewesen, hier noch lebend rauszukommen.


Na, ich hab' da seit Monaten ein paar Verfolger am Hals, vorneweg die BEWAG, die andern hab' ich jetzt nicht so im Kopf, jedenfalls hab' ich die Rechnungen nicht bezahlen können. Aber, jeden Tag was gegessen und natürlich auch immer Wasser aus der Leitung genommen, illegal geduscht und Wäsche gewaschen, wenn 's dunkel wurde, die Lampe angemacht und gekocht hab' ich auch. Die Plombe hab' ich vom Zähler gelöst, einfach immer weiter abgezapft. Ist alles illegal!

Will keiner verstehen, warum ich da so uneinsichtig bin. Nur habe ich jetzt nicht mehr viel Zeit über meine Fehler, die ich gemacht habe, nachzudenken. Außerdem ist mir klar, dass ich an etwas anderem gescheitert bin.

In meiner Angst zu verlieren, habe ich tatsächlich geglaubt, wer sich anständig benimmt, der ist der Dumme.


Eigentlich hat sich ja nie einer um mich gekümmert, hat nie einer zu mir gehalten und ich habe mich auch um keinen gekümmert und auch zu niemanden gehalten. Von drei wurden zwei entlassen, einer davon war ich. Wir taten beide so, als ob es nur der andere wäre. Warum war das so? Das habe ich mich gerade in dem Moment gefragt, wo ich die Antwort weiß. Vorher nicht, da tut man immer nur so, benimmt sich irgendwie. Man macht einfach immer so weiter, aber man fragt sich nicht warum.

Jetzt, wo ich hier auf dem Fußboden sitze, ist das alles lächerlich. Jetzt kann ich nicht mehr einfach so weiter machen und abhauen kann ich auch nicht mehr.

Wann hab' ich eigentlich zuletzt gelebt?


Vor zwanzig Jahren in den Bergen, da saß ich abends vor dem Haus und der Mond war nicht so weit weg. Da hab' ich es mal ausgehalten, da draußen, da unterm Mond, da stellte ich mir noch Fragen, die mich weit ab in unbekannte Gegenden führten, da hing ich noch nicht an Fäden, da hab' ich die Schwingungen in mir noch nicht abgewiesen.

Aber dann wurde ich der Hampelmann, der zwar heimlich in der Nacht immer mal wieder die Keith’schen Fäden durchtrennte, aber nur um mich am nächsten Morgen wieder brav daran zu befestigen. Beim letzten Knoten dachte ich: Nee, mein Lieber, solche Manöver kannst Du dir sparen, die sind umsonst.


Ich weiß, dass ich nicht so interessant bin und ich habe auch noch nie daran gedacht, etwas zu dem ganzen Irrsinn zu sagen. Aber das ist jetzt, wo die Luftkralle über mir aufgesetzt hat, egal, das mache ich jetzt. Es gibt sowieso zu wenig Geschichten über Leute wie mich: Bilanzbuchhalter, betriebsbedingt gekündigt, seit zehn Jahren arbeitslos, in zwei Tagen vierundfünfzig und nicht mehr vermittelbar. Noch zehn oder womöglich noch mehr Jahre bis zur Rente, und ich weiß nicht, wie ich in der Zeit bis dahin leben soll, nur weil Keith den Hals nicht voll genug kriegen kann. So einer wie ich bleibt doch ohne Geschichte, ich meine, mein Schicksal wird wohl unumstritten bleiben, so kleine Geschichten sind nicht mal erwähnenswert in der großen Geschichte.


Mir ist die Unmöglichkeit zu überleben klar geworden, durch eine Flut von Behördenbriefen, in denen mir die neuen Spielregeln für mein Leben als Arbeitsloser vermittelt wurden, spätestens dann, als ich den Brief von den Strom- und Wasserwerken bekam. Der Tonfall des Briefes war besonders für jemanden wie mich unmissverständlich. Wenn ich den Brief sauber übersetzte, stand da: erst Geld, dann Wasser.


Das ist die Formel für die Bedingungen meiner Existenz und sie gilt überall auf der Welt. Sie war auch mir in Fleisch und Blut übergegangen, bloß vorher habe ich nie darüber nachgedacht. Und jetzt kommt mir das immer seltsamer vor. Ich habe das nie gesehen, dass die Art und Weise der Spielregeln die Art des Menschen bestimmt und die Art des Menschen die Spielregeln.

Jetzt, wo mir wohl nichts und niemand mehr helfen wird, kann mir keiner mehr was erzählen. Für die paar Worte im Büro hat meine Sprache schon gereicht, da wusste ich mich schon auszudrücken, nur alles Übrige konnte ich schlecht sagen.


Also, wenn ich mir das jetzt vorstelle, dass man um zu überleben, dazu gebracht werden kann, mehr als zwanzig Jahre ohne eigenes Gehirn zu leben, vor allem, wenn man sich vorstellt, dass fast alle damit einverstanden sind, ... ist das nicht unbegreiflich?

Na ja, fast zwei Jahre hab' ich noch gehofft nach der Kündigung, dann hab' ich gewusst, das war's.


Aber da hab' ich mir gesagt, jetzt geht's mal um dich, Blumfeld, hab' ich gesagt, jetzt bist du nicht mehr überflüssig. Der Umzug von deinem PC in der Potsdamer Straße an Brunos Küchentisch, der ist doch elementar, habe ich gesagt. Du setzt dich hin und schreibst dich auf. Das geht, das kostet gar nix. Du holst Papier und Stift, du machst dich immun, Blumfeld, immun gegen dein Nicken. Du machst mal nichts, was einen Zweck hat und einen Nutzen, du denkst mal alleine, du machst mal was, was man nicht kaufen kann, du machst mal das, was wirklich etwas wert ist. Soll man dich doch für einen Irren halten, über dich wird jedenfalls keiner mehr verfügen.


Eigentlich fing das Spiel ja schon in der Schule an. Nur hätte ich es da nie für möglich gehalten, dass dieses Spiel mich dort hin befördern würde, wo ich gerade sitze: mitten in Berlin unter der Luftkralle, auf dem Fußboden meiner Zwei-Zimmer-Wohnung. Während ich hier schreibe und schreibe, muss ich wieder daran denken, dass es doch besser gewesen wäre, wenn ich ein Theaterstück geschrieben hätte. Aber ich bin zu spät drauf gekommen. Und für das Theaterstück, da brauch' ich unbedingt den Bruno, das ist unabdingbar, würde der Keith jetzt sagen.

Über die Sachen, die so passieren, darüber kann ja jeder sprechen, aber was drinnen in einem passiert, das kann doch einfach nicht jeder, ohne den Bruno kann das ja kein Mensch verstehen. Ich habe mir das nämlich schon oft vorgestellt, wie die Zuschauer im Theater sitzen und meine Wohnung sehen, und mich, wie ich gerade auf dem Fußboden sitze und an meiner Geschichte schreibe. Und dass sie sehen, wie ich vor zehn Jahren an meinem Computer im Büro gesessen habe. Und auch so ein Keith sollte mal zu sehen sein auf der Bühne und wie der mich jeden Morgen zerschlagen hat. Ja, ich bin vollkommen sicher, dass es leichter ist, das Ausmaß meiner Lage zu begreifen, wenn ein Schauspieler meine Rolle übernimmt und den Zuschauern zeigt, wie das ist, wenn man keinen Ausweg mehr weiß und wie man da sitzt, zwischen den Resten seiner Einrichtung aus einem früheren Leben. Das ist eben so, dass das keiner hören will, das kenne ich doch, das weiß ich doch genau.

Es ist eben viel zu schwer, selber mal zu erzählen, was los ist. Warum fällt es eigentlich so schwer zu sagen, was man gemacht hat?

Die Schauspieler können doch ganz anders als ein normaler Mensch ein Zeichen für einen Menschen setzen und heute kann doch sowieso nur noch ein Schauspieler zu irgend etwas verführen.

Ein Arbeitsloser kommt doch als Mensch auf der Bühne ganz anders raus, als auf dem Arbeitsamt oder bei Aldi oder an seinem Küchentisch. Als Bühnenfigur würde der doch ganz plastisch zu sehen sein. Wenn ich mir das vorstelle, ein echter Mensch würde mich auf der Bühne wieder zu einem Menschen machen. Sogar meine Regierung könnte sich mal völlig unverbindlich einen von Millionen Arbeitslosen auf der Bühne ansehen und auch, wie der vorher so gelebt hat, als Bilanzbuchhalter oder was weiß ich. Der Bruno bekäme bestimmt einen Preis als bester Darsteller in meiner Rolle als arbeitsloser Bilanzbuchhalter. Und Angela Merkel würde ihm einen Brief schreiben, dass wir solche mutigen Menschen wie ihn brauchen, und dass es deshalb so wichtig gewesen ist, dass Bruno die Rolle übernommen hat. Na, und so einer wie Keith, der wäre dann mal auf der Bühne zu sehen, außerhalb des rechtsfreien Raums, in dem der sonst so agiert, und es wäre vor allem zu sehen, warum sich das alle gefallen lassen.

Ja, so ist das gewesen, müsste der Bruno sagen, ich habe mich nicht losreißen können von meinem Bilanzbuchhaltergehalt und von Keith, bei dem man nicht denken musste. Ich dachte, so ist es bequem, worüber sollte ich unglücklich sein, es fiel mir leicht, die Faust nur in der Tasche zu machen, denn so wirkt man ergeben, bleibt unauffällig.

Ich wusste, würde der Bruno sagen, was Keith von mir wollte, und ich war sicher, wenn ich das tat, würde ich nicht fassbar sein. Ja, bei Keith hab' ich ja nicht mal mehr von mir selber was gewusst. Ja, wer sagt denn so was von sich? Wer würde denn das schon von sich sagen wollen? Da braucht man doch einen Schauspieler, der einen da rausreißt. Ja.

Und tatsächlich ist es auch über mein Berufsleben hinaus keinem gelungen mich zu begreifen und zu fassen. Und das, genau das ist es, was ich, bevor es zu Ende geht mit mir, noch ändern will. Deshalb schreibe ich hier bis zur letzten Minute, aber es fällt mir viel leichter, wenn ich mir dabei die Bühne vorstelle und an Bruno denke. Ich stelle es mir wirklich unheimlich komisch vor, wie die Zuschauer während der Vorstellung hin und her gerissen werden zwischen sich und mir oder vielmehr dem Bruno. Vor allem, wenn der Bruno dann an meinem Küchentisch sitzt und zum Fenster rausguckt, immer auf den Hinterhof stiert und aus dem kleinen, umzäunten Platz, wo die Mülltonnen unter dem Plexiglas stehen, den Bundestag macht. Wie der Bruno die gut angezogenen Herrschaften zwischen den Mülltonnen Platz nehmen lässt und dann die ganze Brut mit seinen Blicken verächtlich macht, ja, das würde ich mir wünschen, dass das zu sehen wäre.


Ja, ich würde mir wünschen, dass mal was anderes zu sehen wäre als die dämlichen Reportagen, die Stimmungsberichte über die Armen, wo sogenannte Journalisten dauernd fragen, was man in seiner Situation empfindet. Schamlos ist das.

Der Bruno, der weiß, dass es bei einem, der aussortiert wurde, nicht um eine Stimmung geht. Der Bruno, der würde das schaffen, dass mich überhaupt mal einer ansehen würde. Ist doch so! So einer wie Bruno, der würde es doch schaffen, dass die Zuschauer sich mir nahe fühlen würden. Und ich hätte doch erst wirklich eine Chance, angesehen und verstanden zu werden, wenn Bruno in meinem Bett liegen, für mich reden und in der Wohnung auf und ab gehen würde. Der Bruno, der könnte doch den Zuschauern zeigen, was bei mir los ist, in meinem Kopf, seit ich ausgeraubt wurde. Der Bruno, der würde solange beben vor Ekel, bis die Zuschauer mitbeben vor Empörung. Und außerdem ist doch so gut wie sicher, der Bruno, der könnte doch alles sagen, niemand könnte doch einen Bruno zurück in die Kulissen treiben.

Bei einem wie mir ist das doch genau umgekehrt. Wenn ich über den Ku'damm gehe, wird mir doch sofort klar, dass ich da falsch bin. Da ist doch gar nichts möglich ohne Geld. Das weiß doch jeder, wie das ist, wenn man arm ist auf dem Ku'damm, da soll man sich doch was schämen, dass einem alles weggenommen wurde. Na ja, sobald ich da auftauche in meinen billigen Klamotten, da hab’ ich doch schon verloren, da werd’ ich doch gleich schief angeguckt, da brauch’ ich den Mund doch nicht mehr aufmachen.

Aber wenn der Bruno meine Rolle spielen würde, dann könnte der doch auf mein Elend und die ganzen Gemeinheiten mal zu sprechen kommen, damit ich mich wieder raus trau', eben nicht nur um die Mittagszeit, wenn die andern essen, unauffällig zu Aldi schleiche und wieder zurück an meinen Küchentisch.


Und außerdem, gelesen macht das Elend ja doch nur halb soviel her. Nein, nein, ich bin mir ganz sicher, dass mein Leben am besten auf der Bühne zu erzählen wäre. Vielleicht hat der Bruno mich ja doch nicht vergessen. Vielleicht kommt der ja ausgerechnet heute, bevor es vorbei ist mit mir. Wenn er jetzt käme, würde ich ihn schon fragen, jetzt würde ich mich nicht mehr genieren, ihn zu fragen ob er das macht.

Außerdem war ich ja sowieso von morgens bis abends ein Schauspieler, und wenn man weiß, dass man bald tot sein wird, dann möchte man nicht mehr gegen sich sein, dann drängt es einen so, dann will man doch endlich mal aus der Rolle fallen.


Damals bei Keith war ich ja von Montags bis Freitags immer gegen mich, hab' in mir so ziemlich alles verkommen lassen, weil ich doch total überzeugt war, dass es am leichtesten war, außerhalb von mir zu leben. Damals war das unumgänglich, ich wäre sonst schreiend weggelaufen. Der Keith benahm sich doch als wäre er verrückt geworden. Da musste ich doch wenigstens vor mir sicher sein.

Natürlich musste ich lange und regelmäßig trainieren, bis ich es schaffte, ganz aus mir rauszugehen. Anfangs macht man Fehler, weil man es mit der Zuverlässigkeit und Präzision einer Maschine noch nicht aufnehmen kann. Man muss es ja dahin bringen, sich von Kopf bis Fuß zu beherrschen, und deshalb alles, was man so an sich hat und mit sich herumträgt, erst mal erziehen. Natürlich kommt es manchmal zu Ausfällen, obwohl man sicher ist, Augen, Mund, Nase und Ohren gehorchen längst aufs Wort. Man ist in seinen Bewegungen natürlich eingeschränkt und fühlt sich auch nie ganz sicher.

Na, wenn man ständig auf der Hut vor sich ist, kann man nicht einfach mal spazieren gehen oder sich mal richtig ausstrecken. Jede Schwingung ist da gefährlich, man rutscht viel zu leicht ab von seiner Haut.


So zu leben, ist ein äußerst komplizierter Vorgang, und man muss sich dazu in eine gewisse Andacht fallen lassen und sich sagen, so, jetzt geht's los, und man darf sich einfach durch nichts mehr ablenken lassen, damit man nicht herunterfällt von sich. Ich beobachte das jetzt immer bei denen, die noch Arbeit haben. Tja, wohin soll man immer mit Armen, Beinen und Füßen. Das will alles geplant sein. Hände zum Beispiel sind äußerst schwierig zu beherrschen, man möchte sie am liebsten verstecken.

Was ich sagen will, es war ja nicht nur Keith, der mich unnachgiebig programmierte, ich bin natürlich auch gegen mich vorgegangen. Aber es ist tatsächlich unmöglich, einen Keith und sich gleichzeitig auszuhalten. Wenn da oben einer drin sitzt, in deinem Kopf, musst du raus, das geht nicht anders, ist ja besetzt, zu zweit unmöglich, sonst wirst du verrückt. Ja.

So zu erzählen ist anstrengend und ich bin sehr müde, fast schon schläfrig. Ich muss meine Geschichte aber jetzt trotzdem zu Ende erzählen, weil ich ja nicht weiß, ob ich mich auf den Bruno verlassen kann, ob der das für mich machen würde und meine Kraft lässt langsam nach, und die Schwingung ist wohl eingeschlafen. Ich weiß auch nicht, wie lange ich mich noch konzentrieren kann und deshalb muss ich auf den letzten Akt zu sprechen kommen, auf den ja alles hinausläuft.


Ich bin seit Wochen nur noch zuhause Komma weil ich kein Geld mehr habe Punkt Es kommt ja keiner vorbei und fragt nach mir und ich gehe nirgendwo hin und sage Komma was mit mir ist Punkt Wäre ich für jemanden verantwortlich Komma würde ich vielleicht diese Schikane auch noch überleben Komma aber ich bin allein und doch so weit mit mir gekommen Komma dass ich wohl krepiere Punkt Es gibt keine Rettung Komma wenn keiner an dich denkt Komma wird dich auch keiner aus deiner Lage befreien Punkt Tatsächlich ist das, was jetzt mit mir ist Komma unbeschreiblich Komma aber ich schreibe das auf Punkt


Ich habe Angst, das kann doch gar nicht sein, dass ich hier ganz allein bin, mitten in Berlin, und keinen Ausweg weiß. Warum tun denn alle so, als ob sie träumen und nicht eingreifen können? Das kann doch keiner aushalten, so schutzlos zu sein. Wenn man unter seinesgleichen wohnt, aber seinesgleichen nicht sein kann, das ist eine so große Erniedrigung, man sträubt sich, man wehrt sich dagegen, bis man sich nicht mehr aushalten kann. Ich will nicht sterben, nicht mit vierundfünfzig, wer kann sich da fügen, ohne unheilbar krank zu sein. Aber diese letzte Maßnahme gegen mich ist doch äußerst effizient und meine Gedanken halten den Tod nicht auf. Die Luftkrallenarbeiter, die ich heute bemerkt und beobachtet habe, müssen sehr früh aufgestanden und noch im Dunkeln aufgebrochen sein und sich dann durch die Stadt auf meine Straße zu bewegt und von dort leise durch die Hofeinfahrt in den Hinterhof und dann vorsichtig auf das Dach vorgearbeitet haben, was mit dem langen krakenhaften Gerät nicht einfach gewesen sein muss. Aber sie hatten wohl schon Routine, denn schon vor fünf am Morgen hat die Kralle wie ein Greifvogel aufgesetzt. Kurz danach hörte ich kratzende, schlürfende Geräusche, die keinen Zweifel mehr daran ließen, dass etwas in meine Wohnung getrieben wurde. Danach machten die beiden Luftkrallenarbeiter eine Pause, frühstückten aber im Stehen. Die beiden standen bei den Mülltonnen, steckten ab und zu die Köpfe zusammen. Ich stand hinter der Gardine und sie sahen zu meinen Fenstern hoch. Der Wagen stand auf der Straße und als ich vom Vorderhausfenster sah, dass sie die Sonde wieder verladen hatten und ins Auto stiegen, der mit der Sonnenbrille pfeifend, da wusste ich, es ist so, wie ich vermutet habe.

Der Effekt bleibt natürlich nicht aus, denn ich weiß nicht genau, was die Sonde, die sie in meine Wohnung hineingetrieben haben, auslösen wird, ich weiß nicht genau, worauf ich warte, ich denke nur noch daran, dass ich nicht sterben will. Ja, soweit ist es gekommen mit mir. Und soweit ist es mit den Gesetzen gekommen. So ist das immer, wenn etwas kommt, was man nicht kennt und um das man sich dann nicht kümmert. Anfangs habe ich noch Eingaben gemacht bei den verschiedenen Ämtern und Behörden, wenn mir eine Verfügung unglaublich vorkam, weil ich dachte, dass es kein unbekanntes Gesetz geben kann. Aber gerade deshalb hab’ ich ja aufgehört damit, gerade deshalb habe ich ja aufgegeben, weil ich immer wieder darüber belehrt worden bin, dass alle Maßnahmen, die mich in die Verzweiflung trieben, wirklich rechtens waren. Ich wollte mich eigentlich nicht mehr der Angst beugen, aber das Gesetz ist bis zu mir vorgedrungen, zu meinen Armen und Beinen, meinem Herz und meinem Atem.

Die Luftkralle funktioniert tadellos. Ich kann mich kaum noch bewegen, kriege immer weniger Luft. Warum habe ich das nicht früher gelernt? Warum habe ich nicht gesagt, Blumfeld, du musst dich doch wehren, immer weiter, trotz aller Verluste. Jetzt würdest du es fertig bringen, sage ich mir, zu sprechen, jetzt, Blumfeld, wo es zu spät ist.

Es gibt ja keine Fotos von mir, keine Briefe, nichts. Nur die paar Blätter hier. Und ab jetzt werden doch ein paar Kommas fehlen, in meinem Buchhalterleben. Ich kann mich nicht mehr so konzentrieren. Ich weiß ja nicht, was draus wird, aber das ist alles, was ich mir erarbeitet habe, und ich sage mir, wenigstens das hab’ ich gemacht. Außerdem habe ich ja noch den Bruno in der Hinterhand, der wird das schon machen. Wenn der die Zuschauer so anschaut, ich kann leider nicht so genau sagen, wie der das macht, dann werden die anderen mich verstehen. Und dann ist es einen kleinen Moment ganz still und der Bruno lächelt, und die Zuschauer lächeln zurück.


Wäre schön, Bruno, wenn Du mal was sagen könntest. Bist Du überhaupt noch in Berlin, oder bist Du schon wieder umgezogen? Hast Du genug geübt, oder bist Du noch allein? Vielleicht kannst Du ja Deinen Küchentisch wieder gebrauchen.


Der Bruno, der kommt wohl nicht mehr und trotzdem jeder soll wissen, was mit mir passiert ist. Es gibt ja nur das hier, diesen Versuch mich in die kleine Form zu pressen, die meine paar Blätter hergeben. Trotzdem, für meine Verhältnisse bin ich doch ganz schön aus der Rolle gefallen. Das ist schon doch was!

Überhaupt, ich fange wieder an, mich zu trösten, das macht man eben, wenn man Angst hat. Ich sage mir, so wie die Dinge liegen, hätte es noch schlimmer kommen können, man weiß ja, dass man anderswohin rasende Kommandos schickt, die Menschen, die man loswerden will aus den Betten zerren, an die Wand stellen oder verschleppen und da erschießen, wo sie gerade sind. Sie nennen das Säuberungen. Meistens sind es Soldaten, inzwischen sind es vielleicht schon staatlich rekrutierte Arbeitsdienste. Die Maßnahme mit der Luftkralle wurde jedenfalls von zwei Spezialisten durchgeführt, einem Kranführer und einem fetten Mann mit Handy.

Ich nehme an, meine Mörder haben einen Arbeitsauftrag, den man nicht ablehnen kann. Andererseits, man wird es nicht allzu lange verbergen können. Das geht den üblichen Gang: Erst kommt der Luftkrallenskandal, dann die Luftkrallenlügen und danach der Luftkrallen-Untersuchungsausschuss. Vermutlich wird es auch einmal eine Statistik über Luftkrallenmorde geben, über die Historiker noch im darauffolgenden Jahrhundert streiten. Es ist durchaus wahrscheinlich, zu meinem sechzigsten Todestag wird man mehr von mir erfahren. Das steht fest, höre ich einen der führenden Experten sagen, vor sechzig Jahren wurde die Demokratie mit Füßen getreten. Auf Zeitzeugen kann ich ja auch nicht rechnen, jetzt, wo sich mal wieder jeder selbst der Nächste ist. Und deshalb wird das immer deutlicher für mich, wahrscheinlich muss es doch der Bruno machen.

Halt, das hätte ich fast vergessen, Bruno, das Stück soll 360 Grad heißen.


Na ja, wenn’s zu Ende geht, da ist es leichter, da kann man alles sagen, da fällt einem ja wirklich keine Ausrede mehr ein, warum man das ganze Elend noch verschweigen soll.

Ich lasse Sie also allein mit diesem Zustand, schreibe ich im Juli 2011 in Berlin, wo mir in der Bülowstraße, im 4. Stock, aus noch zu klärender Ursache endgültig die Luft ausgeht.


Meine Unruhe hat nachgelassen, weil ich am Ende doch noch über das Provisorium, in dem ich mich eingerichtet hatte, hinaus gekommen bin.

Keine Angst, Sie haben nichts zu befürchten, ich werde nur die Fakten nennen: dass keiner für mich zuständig ist, dass keiner mich hält, wenn ich jetzt auf mich falle, das ist nur mein Bild, meine Stimme, was sich tatsächlich abspielt, hören Sie natürlich nicht.

Es wird jetzt alles sehr weich, ein herrliches Gefühl, sich um nichts mehr sorgen zu müssen. Es ist jetzt so still, da muss man ja überquellen. Schade, ich wollte keine Unordnung zurücklassen. Aber ich komme nicht mehr hoch, ich bleibe liegen. Und ich will auch nichts mehr sagen.

Es wäre aber wunderschön, wenn jemand, irgendjemand, etwas sagen würde.



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