Leseprobe:
RikschaTango
Oskars fünfte Dimension
„Oskar ließ die Reihen umherstehender Männer an der Theke hinter sich, ging zur Fensterseite, im Blick die tanz- und flirtbereiten Schönen. Rotes Licht zeichnete ihre Gesichter, Schultern und Arme weich. Lust, gesehen zu werden, nahm er in ihren Mienen wahr, im Lächeln, im Aufblühen sehr roter Lippen, in Gebärden, im Übereinanderschlagen nackter Beine. Ja, sie wollten umworben werden, und er wusste, was er an seinen Tanzkünsten hatte. …“
„Er steuerte ein rotes Sofa in einem halbdunklen Winkel an, das gerade frei geworden war. Kurz bevor sie darauf landen konnten, lachte Katja auf und bremste ihn. Sie übernahm die Führung, machte einen gekurvten Rückschritt und ging mit ihm in die Drehung, weg vom Sofa. …“
„Nach Mitternacht tauchten andere Frauen auf, als wechsle die Schicht. Eine Schwarzhaarige, begleitet von einem Endvierziger im T-Shirt, ging mit entrücktem Blick auf glitzernden High Heels vorbei, anmutig, in kleinen, sicheren Schritten. Mit dem Duft nach frischen Rosen. Ihr Rock hochgeschlitzt, ein Strumpfband blitzte hervor. Die glänzenden Haare fielen ihr locker auf die Schultern. Er hatte sie schon mal gesehen, aber nie mit ihr getanzt. Eine unglaubliche Schönheit, unerreichbar für ihn. …“
Die Geschichte einer Kindheit im Münsterland
Einer muss weg (Der Romananfang)
»So lange hat’s nie gedauert, wir müssen beten«, sagt Vater.
Ich hör Mutter in der Elternkammer hinter der alten Stube stöhnen. »Was ist mit Mama?« Ich drängle an Paula vorbei und drück die Klinke der Stubentür runter.
Paula zieht mich zurück, legt den Zeigefinger auf den Mund und flüstert: »Psst, Mama hev Koppiene. Heini, geh spielen!«
»Was soll ich denn spielen?« Handschuhe hängen am Herd, nass vom Schneemannbauen. Immer hat Mutter Kopfweh. Heute, am Sonntagmittag, hat sie nicht mal mitgegessen. Ich renn durch den Flur zur anderen Tür der alten Stube, doch Paula stellt den Fuß von innen dagegen. »Heini, verschwinde!« Die älteste Schwester will immer das Sagen haben.
Es schellt, ich öffne. Meine Taufpatin Tante Maria hängt im Flur Mantel und Pelzhut auf. »Heini, du bist ja gewachsen.« Sie packt Bonbons aus und gibt mir zuerst eins.
Tante Trude humpelt herbei, wischt die Hände an der fleckigen Schürze ab, schaut zu Vater. »Die ganze Arbeit mit’n Blagen hab ich, nu noch eins, was solln wir mit so vielen?«
»Erstmal abwarten, ob’s gut geht.« Vater geht mit ihr und Tante Maria vom Flur gleich in die beste Stube.
Mit Mutter stimmt was nicht. Ich press ein Ohr ans Schlüsselloch. Die kleine Anna will auch. »Verschwinde«, sag ich. Gleich kratzt und beißt sie, aber ich zieh an ihren Haaren, damit sie nicht vergisst, dass ich ein Jahr älter bin.
»Hein, ihr müsst mir noch eins geben, habt ihr versprochen«, sagt Tante Maria zu Vater. »Opa hat dich im Krieg gerettet.«
O Gott, sie will noch eins. Nur nicht mich! Sie hat schon Otto. Wenn noch eins, dann nicht Anna. Auch nicht Ulla: Mit der spiel ich und vertrag ich mich am besten. Lieber die große, dickfellige Paula oder die dünne Eva mit der Brille. ...
Leseprobe:
KAPUZENJUNGE
… Er hört die Gartenpforte quietschen. Jani läuft herein, zerrt die Schultasche vom Rücken, wirft sie ins Gras, springt Heiner auf den Schoß und drückt sich an ihn. „Geburtstag! Geburtstag!“
Heiner schlingt seine Arme um ihn. „Ich gratuliere dir, mein – mein Sohn.“ ‚Mein Sohn‘ kommt ihm nicht leicht über die Lippen; er fühlt sich als Schwindler.
„Papi, ich zwei Smileys, Malen und Rechnen, alles richtig!“
„Darauf kannst du stolz sein!“ Heiner streicht ihm über das schwarze Lockenhaar. Wäre er nur sprachlich nicht noch weit zurück.
Jani springt auf, rennt zu den Geschenken auf dem Gartentisch, nimmt das größte, reißt das Papier auf. Fetzen fliegen herab. „Ein blauer 4YOU – super!“
„Schön, dass er dir gefällt!“ Heiner streicht sich über seinen Bart. So einen Ranzen braucht Jani. Um hierher zu passen, in den Eichforst, auch mit seiner dunkleren Hautfarbe. Aber das kostet. Sein Beruf Bildungsschwache coachen bringt nicht so viel ein, wie Ärzte und Anwälte verdienen, die hier auch zu Hause sind.
Jani greift das nächste Paket, in blauem Papier. Auch das flattert zerrissen herab. „Playmobilburg. Mit Drachen und Rittern“, jubelt er, betastet gleich eine flache Tüte, schüttet sie aus, lässt sie fallen. Der Papierhaufen wird größer. Ein grünes Schwarzenegger-TERMINATOR–Sweatshirt mit Kapuze. Er zieht es über, stürmt auf Heiner zu, gibt ihm einen Kuss. „Du der beste Papi der Welt!“
Heiner herzt ihn auch. „Die Kapuze ist gut gegen deine Ohrentzündung!“ Er forscht in Janis Gesicht. Ist er zufrieden?
Jani blickt umher, auch unter den Tisch, und zupft Heiner am Arm. „Ein Hamster?“
„Das müssen wir überlegen.“
In Janis Augen entladen sich kleine Wutblitze. „Ich ’n Hamster!“, schreit er, rot im Gesicht.
Diese Ausbrüche! Heiner zieht ihn an sich und streicht ihm über den Rücken. Jani strampelt, reißt sich los.
Heiner sieht Tränen in seinen Augen „Lieber Jani, du möchtest einen Hamster, das verstehe ich, aber ich denke, du kannst noch nicht damit umgehen.“
„Kacke! Du blöd!“ Jani haut mit dem Fuß gegen den Tisch, der schwankt; ein Glas rutscht über den Rand, zerschellt auf den Steinplatten.
„Jani, lass das! Und rede nicht so mit mir.“ Heiner ballt die Faust und starrt auf die Scherben. In ihnen flackert Sonnenlicht. Er bückt sich, greift sie hastig, stößt sich einen Splitter in den Finger. Ein Tropfen Blut tritt hervor, den er ablutscht. Er trägt die Bruchstücke ins Haus, in die Küche und wirft sie in den Müll.
Mit einem Ersatzglas kommt er zurück und sieht, dass Jani – den Fußball neben sich – auf der Wiese Pfosten für zwei Tore mit einem Stein in den Boden rammt; hart schlägt er zu und schlägt, ohne Heiner anzusehen. Hoffentlich beruhigt Jani sich, bevor die Gäste kommen. …
DER IDEALIST
Die Geschichte eines jungen
Münsterländers in Berlin
... Das helle Geschrei der Wildgänse zieht südwärts in der Septembersonne vorüber. Ich trete von einem Bein aufs andere. Die Arme hängen schlaff. Der rechte Daumen auch. Willst du Anhalter wirklich fort, wie die Zugvögel hoch oben? Sieben Uhr. Die Glocken der Heilig-Geist-Kirche lärmen zum Abschied. Die Stunde null. Nach der Flucht aus Steinhop hast du dir mit der Zauberformel Ich-will-Pfarrer-werden die Oberschulpforte geöffnet. Und auf diesen Tag hingelebt. Sind die drei Jahre bischöfliches Kolleg tatsächlich vorbei? Jeden Morgen zum Frühstück Vokabeln gepaukt, mittags Gleichungen gelöst und zur Abendsuppe konjugiert: libero, liberavi, liberatum. Selbst Klassenlehrer Hoppe hat gezittert, ob es zur Reife reicht …
Heinrich von der Haar
Arbeitsfelder:
Belletristik, Romane und Kurzgeschichten
Sachbücher
Veröffentlichungen / Preise
2009: Sein Debütroman Mein Himmel brennt gewann im Romanwettbewerb der Romansuche.de den 1. Preis.
2020: Publikumspreis für Mein Himmel brennt in der Nacht der Poesie des Literatur-Kollegiums Brandenburg e. V. im Potsdamer Museum der Alexandrowka
Mail: HeinrichvonderHaar[at]web.de
Aktuelle Programme:
„Mein Himmel brennt“
Lesung und Gespräch, ca. 1,5 Std.
„Der Idealist“
Lesung und Gespräch, ca. 1,5 Std.
„Kapuzenjunge“
Lesung und Gespräch, ca. 1,5 Std.
„RikschaTango. Oskars fünfte Dimension“
Lesung, ca. 1 Std.