Literaturpreisträger 2015:
Thomas Föller
Nachkriegsversehrt
Endlich am Wasser. Gleich kann sie schwimmen, den Schmutz abwaschen. Sie hat die Badestelle zwischen den Bäumen am Ende des langgezogenen Sees für sich alleine. Unter den Birken legt sie die Kleider auf einen Stapel, ordentlich gefaltet, zuunterst den Rock, dann Strümpfe, Hemd, Schlüpfer, Bluse und Strickjacke. Sorgsam stellt sie die verkratzten, dünnsohligen Schuhe daneben. Spuren von Kuhmist kleben daran; der Geruch nach Stall hängt in ihren Sachen. Als sie sich aufrichtet, hält sie sich an einer der jungen Schwarzerlen fest, die bis ans Ufer wachsen. Vom Himmel ruft ein Fischadler.
Sie tappt über das Laub zum See. Der Spätherbstabend naht. Bald wird die Sonne untergehen; daran hat sich auch seit dem Einmarsch der Bolschewiken vor weniger als einem halben Jahr nichts geändert. Aber seit sie ihren ersten Russen gesehen hat, heult sie jeden Morgen, wenn die Sonne aufgeht.
Sie zittert wie das Schilf, durch das der Wind streicht. Zügig, fast überhastet, durchwatet sie das seichte Wasser und stürzt sich hinein. Schwimmen, den Schmutz abwaschen, die Erinnerungen an der tiefsten Stelle versenken.
Links sieht sie das eine Dorf mit der gedrungenen Feldsteinkirche, rechts zeigt sich nach dem Wäldchen das andere Nest mit der Backsteinkirche. Die Kirchtürme ragen gerade so über die Häuser, Scheunen und Bäume. Wenn sie zwischen ihnen ankommt, wird sie umdrehen.
Sie konzentriert sich auf das Spiel der Muskeln: untertauchen, gleiten, Zug, auftauchen, atmen. Wie fast jeden Tag hat sie der Bauer heute Morgen wegen ihrer Patzer angeschrien. »Reiß dich zusammen, du Kuh!« Kein Wunder, sie schläft nicht, um den Träumen zu entgehen.
Hätte sie Frankfurt und ihre Familie doch nie verlassen müssen. Die Eltern haben sie hierher geschickt. Beim Spaziergang am Neujahrstag über die Oder und hinauf die Kleisthöhe haben sie das erste Mal darüber gesprochen, dass es beim Onkel sicherer wäre. Als Frankfurt im Februar zur Festung benannt wurde, hat sie dem Haus in der Wiecke-Straße den Rücken gekehrt. Jetzt sind Kindheit und Jugend Schutt und Asche.
Mit den nächsten Zügen gelingt es ihr, sich dem Rhythmus hinzugeben. Endlich hören ihre Gedanken auf zu rattern. Jetzt könnte sie ewig weitermachen, vergessen, dass links und rechts die zwei Kirchen zur Umkehr mahnen. Immer weiter, durch den Kanal in den nächsten See, zwischen Insel und Russen-Sanatorium vorbei. Da liefen dann die Offiziere in ihren erdbraunen Uniformen herum…
Die Bilder. Der Keller. Das Vorspiel. Russen stürmen rein, Geschrei, »Dawai, dawai!« Der Schlag wirft mich nieder. Stoßweise schramme ich über den rauen Boden. Ich drehe den Kopf, draußen vor der Kellertüre steht ein Offizier. Er raucht und spielt mit seiner Pistole. Hinter dem Rauch versteckt sich ein Amselweibchen auf dem Ast des Apfelbaumes. Ich habe Angst um den zarten Vogel.
Anspannen, loslassen, gleiten. Der Herzschlag kommt zur Ruhe. »Flieg weg!«, hat sie der Amsel zurufen wollen. Aber aus welchem Grund hätte sich der Offizier damit belustigen sollen, auf den Vogel zu schießen, wo er doch Deutsche hat abknallen können. Ihren Onkel zum Beispiel, der sich den Russen in den Weg gestellt hat, auf ihrem Weg zu den Frauen.
Schweben im Wasser, alles abwaschen. Allmählich wird sie müde. Sie lässt sich eine Weile auf dem Rücken treiben, streicht über ihren Körper, der mager ist wie die Gestalten, die sich zum Sterben an den Straßenrand gestürzt haben.
Aber sie hat doch niemandem Leid angetan, warum wird sie dann so gestraft?
Die Schüsse, die Schreie, die Schläge, die Demütigung, der Schmerz, die Scham. Wieder und wieder und wieder und wieder. Bilder - Bruchstücke nur - blitzen auf. Vom Geruch nach Schweiß, Kordit, Tabak und Wodka muss ich würgen. Die Maserung der Bodenbretter, die Fäden der Uniformen drängen sich vor meine Augen, brennen sich in mein Gehirn. Daran halte ich mich fest, nur noch das zählt.
Sie taucht unter, das salzige Wasser auf ihren Wangen vermischt sich mit dem See. Den Schmutz abwaschen, zu Boden sinken und endlich Ruhe haben. Als sie es nicht mehr aushält, kommt sie zur Oberfläche und holt tief Luft. Die Tropfen funkeln und fallen mit leisem Plätschern in den See. Irgendwann wird sie unten bleiben, heute aber schwimmt sie weiter, noch ein paar Züge. Sie dreht um. Bedächtiger zieht sie ihre Bahn zurück. Wohlige Erschöpfung kündigt sich an, der Kopf ist frei.
Kurz vor dem Ufer schaut sie auf, um sich zu orientieren: Da beugt sich eine Gestalt in erdbraunem Stoff über ihre Kleider. Er darf nicht hier sein! Er hat in seiner Kaserne zu sein oder in seinem Lager oder wo auch immer, aber hier darf er nicht sein!
Aber natürlich ist er hier und darf auch alles, er ist ein Sieger. Sie tritt auf der Stelle, ihr Herzschlag beschleunigt sich, sie schluckt Wasser.
Er blickt auf, sie sieht ein lüsternes Grinsen. Nie wieder. Sie wird sich wehren, ihn treten, schlagen, beißen. Er zieht sich aus und legt seine Kleider einige Schritt entfernt von den ihren ab. Sie sieht die Muskeln seiner Arme und seine Hand nach unten wandern.
Er ist zu stark, sie wird nicht gewinnen. Sie hört auf zu strampeln und lässt sich in die Tiefe gleiten. Ihre Füße spüren den Boden. Gegen den Widerstand des Wassers und irgendeines Restes Selbsterhaltungstriebes bläst sie die ganze Luft aus ihren Lungen und wartet. Das trübe Braun vor ihren Augen wird rot. Sie müsste atmen, aber sie verdrängt die Notwendigkeit. Die Glieder werden schwer. Das Rot vor den Augen wird dunkel. Ihre Eltern grüßen sie; unversehrt, obwohl im Bombenhagel zerfetzt.
Jemand packt sie am Arm und zieht sie nach oben. Sie wehrt sich, halbherzig. An der Oberfläche hält sie die Luft noch einen Augenblick an, schließlich atmet sie gierig ein, schlägt mit den Armen um sich. Versucht es zumindest, denn sie wird festgehalten und ans Ufer gezogen.
Der Soldat redet auf sie ein. »Было ужасное время, но все будет лучше. Ещë раз не попытайтесь, ладно? Вы слишком красивы, чтобы умереть.«
Er blickt auf den See. »Красивое место здесь, правда?« Mit der flachen Hand klopft er sich zweimal auf die Brust und lässt sie dort liegen. »Здесь внутри становится и светло и тепло.« Die Stirn krausziehend fragt er: »Gut?« Er legt seine Hand an ihre Wange und lächelt sie an. Die Welt hält inne. Sie nickt andeutungsweise. Mit großen Sprüngen läuft er ins Wasser. Sie schaut ihm nach, sieht ihn planschen und mit einem Juchzer eintauchen. Dann lächelt auch sie, ein ganz klein wenig.
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