Robert Schieding
Worte finden
Worte für das Schweigen,
die Leere zwischen uns
Worte für die Versprechen, stumm,
die Fragen, ungestellt
Worte für die Augen/Blicke,
die verspiegelten Gedanken,
die Laute, die mitschwingen
Worte, die uns benennen
Worte, die ich nicht habe.
Wenn ich gehe
Wenn ich gehe
werden Wolken weiterziehen
Wind wird Halme in der Sonne wiegen
Blumen werden blühen und vergehen
und Fontänen weiterrauschen
Tag um Tag.
Wenn ich gehe
drehen hohe Kräne in der Morgenluft
und über Brücken rollt Verkehr
es bleiben Arme leer und kalt
in der Nacht zurück und irren
hin und her.
Wenn ich gehe
geben Bäume müde Blätter aus
und Freunde schweigen, wie es war
Du wirst nicht rufen, wachen, bleiben
Du wirst ausgehn
Jahr um Jahr.
Vernunftgedicht
Dieses Gedicht hat die Vernunft geschrieben
In druckschwarzen Buchstaben
Auf chlorfrei gebleichtem Papier
Mit ihrem Stempel darunter: So muss es sein!
Als sie mich gestern besuchte,
Hat sie es mir gegeben.
(Und noch ein paar Worte dazu gesagt,
Die ich nicht verstanden hab.)
Ich fand es außerordentlich gut geschrieben:
Diese Klarheit! dieser Scharfsinn! dieser Witz!
(Sie hat dabei ganz bescheiden
Das Kinn in die Hand gestützt.)
Ich dankte ihr für das Geschenk
Und lobte noch einmal seinen Sinn –
Sie sprach von Mut und Broterwerb,
Nahm ihren Mantel still und ging.
Robert Schieding
Jg. 1987, geboren & aufgewachsen in Potsdam, 2006 Abitur in Papenburg (Emsland), 2007-2010 Studium an der Uni Potsdam, 2010-2013 an der FU Berlin, dazwischen 1 Semester in Ljubljana (Slowenien); schreibt Lyrik & Kurzprosa, erste Veröffentlichungen in Wettbewerbssammelwerken & Gedichtanthologien, zuletzt im Lyrikband "Kontraste" (Brandenburgisches Mosaik).
Wohnt in Berlin, lebt auch in Potsdam & anderswo.
Generalprobe
Bevor sie die Bühne betritt, knäulen sich ihre Finger ins Taschentuch. Sie muss an Hermann denken, seine Hände auf ihren Schultern: „Mädchen, du kannst es, egal, was er sagt.“ Sie schließt die Augen, hört den langsamen Takt der Musik, das Stück schwingt aus, jetzt verlassen sie zu den Seiten die Bühne, Schritte, Getippel, Geflüster, Lenas Stimme: „Einen Fehler hab ich gemacht, einen Fehler – er hat’s bestimmt gesehen, bestimmt hat er’s gesehen!“ und Cassandra: „Wir waren toll, wir waren so toll!“
Als das Licht verschwindet, öffnen sich ihre Augen wieder. Sie tritt an den Vorhang, ihre Füße spüren die kalten Dielen unter den rutschfesten Sohlen, sie streckt die Beine durch, spannt ihren Körper, richtet sich auf, atmet ein, sieht Irina, ihre glühenden Augen, ihre Hand, die die Sekunden herunterzählt, in der Dämmerung, atmet aus, Irinas zuckende Faust – und steht auf der Bühne.
Der Spot ist einen Moment zu spät, sie muss einen Stoßatmer machen, in höchster Anspannung. Ihr Herzschlag schnellt nach oben und ihre Arme steigen hinauf, ihre Hände, nach vorn sich öffnend, erreichen den Scheitelpunkt etwas zu rasch, der erste Ton erschallt, und da bewegen sich auch schon ihre Füße zum Takt der Musik, eins, zwei nach vorn, drei, vier zur Seite, Drehung, eins, zwei nach vorn, drei, vier zur Seite. Ihre Arme holen in die Breite aus, die Fingerspitzen berühren die äußersten Punkte ihrer Kugel, und jetzt windet sie sich vorwärts, die Zehenspitzen folgen, bis sie die Kante erreicht, die Grenze, und hier fällt ihr Kopf in den Nacken, der Rücken muss gerade bleiben, beim Einsatz der Flöte tippeln ihre Zehen zurück in die Tiefe des Raumes, wo sie den Kopf niederwirft, den Rücken entspannt und in einer Wellenbewegung wieder in die Höhe wächst, während Bratschen und Violinen um sie klingen, in einem Meer aus warmem Licht.
Und dann beginnen die Sprünge: das sanfte Senken der Knie, das Heraufholen des Atems, Schwingen der Arme, Halten des Kopfes, und dann das rechte Bein, eine Bewegung, den Unterschenkel auf Höhe der Hüfte, die Spannung vom linken Fuß bis in den rechten, unzählige Male geübt, an der Stange, vor dem Spiegel, der Schwung nach vorn, die Zehen angedrückt, die Finger gespreizt, der Rücken muss gerade bleiben, das Fallen, Aufsetzen, Auffangen und Wiederausholen, unzählige Male geübt, der Schmerz, der Wille, die Angst, die Überwindung, das Glück – eine Bewegung, getragen von einem ganzen eingespielten Orchester.
Am Ende berühren ihre Zehen wieder die Kante, gerade so, sie haben sie nicht überschritten, die Grenze. Hier steht sie, den Kopf zur Seite gedreht, und weiß, er sitzt da: Kozak. Kozak, wie immer in Weste und Stiefeln, inmitten des Ranges, wie ein Feldherr, und seine Lippen spitzen sich in dem Dunkel, seine Hand drückt sich ans Kinn und seine Augenbrauen senken sich bis unter die Ränder seiner kantigen Brille. Er hat alles gesehen, jeden ihrer Schritte gezählt, jedes Zögern registriert. Aber heute wird er nichts sagen, sie hat alles richtig gemacht, keinen einzigen Fehler, nichts wird er sagen, gar nichts.
Und nun schweben ihre Schritte zurück, die Musik fließt aus, und sie schlägt mit den Armen Wellen nach vorn, stößt den Kopf hinterher, hält den Rücken gerade, zieht den Körper nach hinten und schwimmt mit der zurückgleitenden Welle hinter den Vorhang von der Bühne.
Das Licht ist aus, sie kann nichts erkennen, sie fällt in konturenloses Nichts, Arme umschließen sie, Lenas Stimme: „Du warst großartig!“, und sie weiß, dass selbst Cassandra sie respektvoll anblicken muss, dort im Dunkel. Sie vermisst ihr Taschentuch und denkt in diesem Moment auch wieder an Hermann, an sein breites Gesicht, seine schweren Hände, seine feste Stimme – und während es wieder dämmert, die Musik von Neuem beginnt, Lenas Arme sie loslassen und viele Schritte an ihr vorbeihuschen, schließt sie wieder die Augen und sieht Hermanns Gesicht, die runde Nase, den hellen Bart, den kahlen Vorderkopf – doch es hat die tiefen Augenhöhlen ihres Vaters und das spitze Kinn Kozaks.
Sie hört das Stapfen von Schuhen, denkt an Irina, macht die Augen auf – da ist ihre Mutter vor ihr, schlingt die Arme um sie und flüstert: „Kind, du warst großartig!“ Die Überraschung erreicht ihre Hände, und sie legt sie auf Mutters Rücken und spürt die Wärme ihrer beiden Körper, wortlos, mit ruhigem Herzschlag, jetzt erst.