Literaturpreis 2012

2012


     
Laudatio


Preisträger:

Uwe Carow

Anerkennung:

 Bettina Franke

 Doris Bewernitz


Noch bevor ich

Stellung halten kann

Im Hundsgemein des Tages

Wird mir der Blendladen

Weggeschossen


- Uwe Carow


Laudatio

der Vorjahrespreisträgerin Hanna Haupt

zum Brandenburgischen Literaturpreis 2012

bei der Verleihung am 24.11.2012 in Potsdam



"Ungesehen, Ungehört, Ungesagt" war das Thema des diesjährigen Brandenburgischen Literaturpreises für Lyrik.


Uwe Carow ist dem Aufruf gefolgt, zu diesem Thema zu arbeiten, und lässt uns über sechs Sequenzen hinweg – in einer Kettenreaktion der Ereignisse – Zeugen seiner Arbeit werden. Und zwar von Anfang an.


Schon in den ersten Zeilen erhalten wir Auskunft über die mehr als schwierige Lage desjenigen, der sich – schon auf dem Weg zur Arbeit – der unlösbaren Aufgabe bewusst wird, die er angenommen hat. Und schon in der fünften Zeile fällt ein Schuss und trifft den, der die Stellung halten will. Das alarmierende Vokabular der Kriegsrhetorik kündigt es an, nach diesem Schuss stehen wir mitten im Krieg.


Uwe Carow will mit seiner Sprache die Stellung halten im Hundsgemein des Tages und kann es nicht, weil durch diesen Schuss die Voraussetzungen zur Erfüllung des Auftrags nicht mehr gegeben sind.


Wenn uns der Blendladen weggeschossen wurde, wenn wir taumelnd in den Abgrund sehen, nützt es gar nichts, erfahren wir, dass wir sprachfertig sind, unsere Kieferknochen gut stehen, der Gaumen im richtigen Winkel gewölbt ist, die Zunge freies Spiel hat, das Gehirn uns freies Geleit zusichert.


Da ist nämlich – weder in der alltäglichen Realität noch im Gedicht – immer noch nichts Neues unter der Sonne zu sehen, was uns vor diesem Abgrund retten könnte, was uns das Fehlende an die Hand gäbe, mit dem wir – ganz gleich in welcher Situation wir uns befinden – aufrichtig berichten könnten.


Was nun auf die Eröffnung der bestehenden Verhältnisse noch folgt, ist eine Kette festgefahrener Augenblicke. Und wir, Lesende, Hörende, Fernsehende, die Zeugen dieses Berichtes, wir wollen einfach nur weitermachen wie bisher und sind deshalb, während wir den Ernst der Lage begreifen, versucht, diese Kette der Ereignisse an irgendeiner günstigen Stelle wieder zu lösen, mit Sachverstand versteht sich, und alles zum halbwegs Guten, also zum Weiter so, zu führen.


"Sie alle müssen sterben, ich auch", so begann in dieser Woche eine Nachrichtensendung in der ARD. Man wolle, so konnten wir erfahren, mit einer Themenwoche Leben mit dem Tod ein Tabu brechen, unseren Horizont in Sachen Tod erweitern und uns die Zungen lösen.


Aber bei derart gewaltigen Tatsachen, wie auch der gewaltsame Tod in Uwe Carows Gedicht eine ist, hilft uns das, was wir zur Verfügung haben, nicht. Deshalb folgt auf die gewaltigsten Tatsachen, die großen Ausnahmesituationen, die uns erwarten, meistens unser gewaltiges Verstummen.


Das ist es, was wir unter anderem über sechs Sequenzen hinweg in einer durch den Atem geführten Sprache (keineswegs in der ARD aber) in Uwe Carows Text erfahren.


Wir Anderen, mag einer denken, hatten doch unsere Welt geordnet, alles ist konkret und deshalb können wir uns auch in jeder Lage über alles verständigen. Das nicht Konkrete, also das an der Verzweiflung Verzweifelnde, das fassungslos Starrende, das stumm Schreiende, ist dieser Einschätzung nach krank, muss weggespritzt und isoliert werden.


Diese Gewalt erscheint den meisten Menschen selbstverständlich. Das drückt sich (unter anderem) darin aus, dass wir uns an die fast selbstverständliche Gewaltförmigkeit in den zwischenmenschlichen und zwischengesellschaftlichen Beziehungen gewöhnt haben und dass diese praktizierte Gewalt zu den unausgesprochenen Verabredungen auch unserer Gesellschaft gehört.


Ohne diese Verabredung müssten wir am Ende zugeben, dass unsere Betriebsamkeit, unsere schon gewohnheitsmäßig betriebene Flickschusterei, unsere aktionistische Aus-den-Augen-aus-dem-Sinn-Kosmetik unmenschlich ist, weil sie nämlich diejenigen Bedingungen ausblendet, die unverhofft, wie aus dem Hinterhalt, die Freiheit des individuellen Handelns und die Sprache jedes Einzelnen von der einen auf die andere Sekunde zerschlagen können.


WEGGEKIPPT AUFGESETZT

An den Schrank

Geschlagen die Sprache

Verloren

An letzte Zeichen


Uwe Carows Sprache geht nicht auf Distanz, sie steht mittendrin, hört und sieht genau hin, ergreift Partei, ohne sich einzubilden, objektiv zu sein. Deshalb gelingt es ihm, Schritt für Schritt und sehr präzise abzubilden, was hier zeitgleich nebeneinander vor sich geht: Denn im Text wird nicht nur exemplarisch die Zerfaserung der gesellschaftlich vereinbarten, vermeintlich sicheren Realität durch die Zerstörung der Humanität, der Grundlage der menschlichen Gesellschaft, abgebildet, sondern gleichzeitig das, was infolge dessen noch übrig bleibt, von dem, der die Stellung nicht mehr halten konnte.


Gibt es denn ein Fundament

Man hat das sichere Gefühl, jedes dieser fünf Worte anfassen zu können, einen Menschen hinter diesen Worten atmen zu hören. Das ist die Grundausrichtung des Textes: exemplarisch die Fallhöhe eines Menschen unter seinesgleichen abzubilden, und das kann, wie wir gleich hier hören werden, sehr deutlich wahrgenommen werden, insbesondere durch Uwe Carows kraftvolle Sprache, die sich abrupt wechselnd im Spannungsfeld zwischen der starren Realität der Gesellschaft und der des verzweifelten Individuums bewegt.


Beeindruckend an dieser Bewegung sind der wechselnde Sprachrhythmus und die Verschmelzung von Realität und Möglichem in diesem zur Sprache gebrachten gesellschaftlichen Drama: die Lage eines Einzelnen in einer aus den Fugen geratenen Welt.


Uwe Carow hat die Realität in ihre Schranken gewiesen, sie gezwungen, vor seiner Sprache zurückzuweichen.



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